Baby-led Weaning - die breifreie Beikost

Stand: 12/31/2017
Haben Generationen von Eltern ihre Säuglinge zu sehr mit dem Breilöffel traktiert? Hat die gelöffelte Breimenge, die standardmäßig vorgegeben wurde, gar nicht dem instinktgesteuerten Bedarf des einzelnen Säuglings entsprochen und wurde ihm aufgezwungen?
So jedenfalls stellen es die Verfechter des Baby-led Weaning (BLW) gerne dar. Baby-led Weaning bedeutet zu Deutsch: Baby-gesteuertes Abstillen. Das Prinzip: Das Baby signalisiert durch sichtliche Neugierde an Lebensmitteln selbst den richtigen Zeitpunkt des Abstillens und füttert sich dann eigenständig mit dem, was ihm verantwortungsbewusste Bezugspersonen wahlweise anbieten. Keiner schiebt mehr etwas in den Babymund, außer das Baby selbst. Es geht von einer passiven Form der Nahrungsaufnahme zur selbstbestimmten Eigenfütterung über. Brei ist dabei out. Was noch nicht gekaut werden kann, wird weich gedünstet oder eben nur gelutscht. Wird ein Kind dabei nicht satt, kann es weiterhin gestillt oder mit der Milchflasche gefüttert werden.
BLW wird gerne interpretiert als ein auf die Ernährung übertragenes Antiautoritätsprinzip oder als ein frühkindliches Partizipationsprinzip. Aber wird BLW dem Nährstoffbedarf eines Kindes im entsprechenden Abstill-Alter auch gerecht?
Die BLW-Idealisten beschwören den sicheren Instinkt eines Säuglings, der von sich aus genau zu wissen scheint, welche Nahrung er gerade braucht, um beispielsweise Kohlenhydrate (Brot, Nudeln) oder Vitamin C (Früchte) für den gegenwärtigen Bedarf aufzunehmen. Oft wird die Davis-Studie aus den 1920er/ 1930er Jahren zitiert, in der die amerikanische Kinderärztin Clara Davis mit 15 Säuglingen Experimente zur selbstbestimmten Auswahl von natürlichen, ungewürzten Lebensmitteln durchführte und dabei, trotz unterschiedlicher Vorlieben der Säuglinge, keine Mangelerscheinungen an den Kindern beobachtete.


BLW in der Umsetzung

Trendsetter dieser breifreien Beikost ist das in England erstmals veröffentlichte Grundlagenbuch „Baby-led Weaning“, das die ehemalige UNICEF-Mitarbeiterin Gill Rapley zusammen mit der Journalistin und Stillberaterin Tracy Murkett verfasst hatte. Nachdem auch das britische Gesundheitsministerium diese Ernährungsvariante befürwortete, verbreiteten sich die BLW-Empfehlungen weltweit sehr rasch sowohl im Internet als auch im Buchhandel . Viele junge Mütter werden verunsichert, weil sie dadurch den Fütterungsempfehlungen ihrer Ärzte und Hebammen nicht mehr vertrauen. Studien wie die von Townsend/ Pitchford aus dem Jahr 2012 werden zitiert, wonach die Kinder der BLW-Methode mit Gemüse und Vollkornprodukten komplexere Kohlenhydrate zu sich nähmen und weniger zu Übergewicht neigten als breigefütterte Kinder.
Als weitere Vorteile werden Entwicklungsschübe beschrieben, wie zum Beispiel die Verbesserung der Kaufähigkeit, der Hand-Augen-Koordination und der Feinmotorik sowie die erhöhte Bereitschaft, sich auf neue Geschmacksrichtungen einzulassen. Nicht zuletzt soll BLW die Selbständigkeit des Kindes als wichtige soziale Kompetenz fördern.

Als schlagkräftiges Argument wird auch die Unkompliziertheit dieser neuen Form der Beikost betont. So heißt auch das Grundlagenbuch von Rapley/ Murkett in der deutschen Übersetzung im Kösel-Verlag: „Baby-led Weaning - Der stressfreie Beikostweg“. Die Autorinnen propagieren darin, endlich Schluss zu machen mit den gewohnten „Brei-Fütter-Schlachten“ und die unkomplizierte Teilnahme am Familienessen möglichst früh zu ermöglichen.
Doch ein „Schlachtfeld“ gibt es natürlich immer bei ersten Essversuchen von Babys – besonders auch, wenn Babys mit noch gering entwickelter Feinmotorik versuchen, sich selbst zu füttern. In einigen Büchern werden Gelassenheit oder starke Nerven regelrecht beschworen und zur Sicherheit gibt es Einweisungen in Erste-Hilfe-Handgriffe beim Verschlucken, da die Schluckreflexe für stückige Lebensmittel direkt nach dem Abstillen noch überhaupt nicht eingeübt sind. Diesbezüglich sollte das Baby bei der BLW-Methode am besten sehr aufrecht sitzen, sofern es das schon kann.
Um allzu große Kleckerei zu vermeiden, wird empfohlen, die Kinder in Hochstühle mit eigens konstruierter Essplatte zu setzen. Angeraten werden Ess-Tabletts aus Kunststoff mit erhöhten Seitenrändern, die zur Reinigung in der Geschirrspülmaschine abgenommen werden können. Als Bodenabdeckung werden in der Literatur regelmäßig große Plastikunterlagen wie zum Beispiel Duschvorhänge oder Wachstischtücher empfohlen.
Für die nötige Gelassenheit sollte man sich dringend von der Vorstellung befreien, dass Säuglinge sich bei der BLW-Methode satt essen. Dieser Effekt tritt erst nach etlichen Tagen ein, wenn die Kinder die Lebensmittel genügend erforscht und die Mund-Zungen-Motorik sowie das Schlucken eingeübt haben. Es wird empfohlen, die Kinder nach dem Essen wie gewohnt weiter zu stillen. Erst wenn der Zungenstoßreflex, mit dem Säuglinge automatisch alles aus dem Mund wieder herausschieben, verschwunden ist, sind Kinder überhaupt in der Lage, sich von den angebotenen Lebensmitteln zu ernähren. Diese Fähigkeit erwirbt der Säugling oftmals im gleichen Entwickungszeitfenster wie die Fähigkeit, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen. Letzterer Entwicklungsschritt wird daher als Anhaltspunkt für den möglichen Beginn von BLW angegeben.

Die Lebensmittelauswahl bei BLW unterscheidet sich bezüglich der Zutaten kaum von der Breimahlzeit, nur werden die Lebensmittel nicht püriert. Es wird beispielsweise empfohlen, bissfest gegartes Obst oder Gemüse in Pommes frites große Sticks zu schneiden und in Reichweite des Kindes zu stellen. Die Sticks sollen mit etwas Überstand in die Babyfaust genommen werden können. Das Überstehende kann dann oben und unten abgebissen oder gelutscht werden. Auch gegarte Fleischstreifen und Stücke von Hackfleischbällchen, Brotstücke, leicht gebackene Gemüsepuffer, Pfannkuchen oder Nudeln mit Soße werden als geeignetes Fingerfood angegeben.
Da die Zufuhr pflanzlicher Öle aufgrund der Omega-3-Fettsäuren wichtig ist und auch nach einigen Monaten Milchprodukte wie Joghurt angeboten werden können, wird angeregt, diese Zutaten in Dips, Obst- oder Gemüseaufstrichen zu verarbeiten und sie als Klecks in Schälchen oder direkt auf die Hochstuhl-Ablagefläche zu geben, in die das Baby seine Gemüsesticks oder Brot eindippen kann.
Natürlich gibt es Lebensmittel auf dem Familientisch, die ein Baby im ersten Lebensjahr meiden sollte. Diese sind:
  • Honig und Sirupe, wenn sie nicht erhitzt wurden
  • alle rohen tierischen Gerichte, z.B. Erzeugnisse aus Rohmilch, rohem Fleisch oder rohem Fisch
  • alkohol-, koffein- und teeinhaltige Getränke und Speisen
  • Blattsalate (kleben am Gaumen)
  • Nüsse und kleine Kerne (Verschluckungsgefahr)
  • salzige und zuckerhaltige Nahrungsmittel
  • aromatisierte Lebensmittel
  • Lebensmittelzusatzstoffe.


Bewertung

Eigentlich ist das Umklammern eines Apfelschnitzes oder eines Brezelstücks, das zum Mund geführt und allmählich vom Säugling abgenagt wird, alles andere als revolutionär. Auch „Breikinder“ gehen in der Regel noch im ersten Lebensjahr dazu über, sich Lebensmittel selbst in den Mund zu stecken, sobald sie die motorischen Fähigkeiten dazu entwickelt haben und wenn man ihnen tatsächlich auch „Probierstückchen“ zum Knabbern anbietet.

Der Unterschied zur herkömmlichen Beikost besteht beim BLW-Trend darin, dass das unselbständige Füttern von Babybreis als Übergangsphase zwischen Milchmahlzeit und fester Nahrung mehr oder weniger kategorisch abgelehnt wird.
In den Handlungsempfehlungen, die von „Gesund ins Leben – Netzwerk junge Familien“ auf der Grundlage wissenschaftlicher Bewertungen herausgegeben werden, wird das BLW gerade wegen der Beschränkung auf Fingerfood kritisiert. Bemängelt wird dabei, dass die für Fingerfood in Frage kommenden Lebensmittel in der Regel eine zu geringe Energiedichte aufweisen, um mit der verzehrten Menge den Kalorien- und Nährstoffbedarf des Säuglings ausreichend zu decken. Muttermilch bzw. Säuglingsmilchnahrung werden deshalb oft bis weit ins zweite Lebensjahr noch als hauptsächliche Nährstoffquelle angegeben. Diese sind wiederum bei fortschreitendem Lebensalter des Kindes oft nicht mehr ausreichend. Das BLW lässt diesbezüglich ein kalkuliertes Konzept sowie den Nachweis zur Sicherung der Kalorien- und Nährstoffversorgung vermissen. Auch die oft zitierten Studien sind alleine schon wegen der geringen Zahl der Probanden umstritten. Da es bislang tatsächlich noch keine Studien gibt, die plausibel belegen, dass BLW im Vergleich zur herkömmlichen Breifütterung ein besseres Essverhalten fördert, bleibt das Netzwerk Gesund ins Leben bislang weiterhin bei seiner Empfehlung zur schrittweisen, altersgerechten Einführung von Breimahlzeiten. Dies schließt nicht aus, parallel zur Breifütterung geeignete Lebensmittel als Fingerfood anzubieten.

Auf die kindeseigene Sicherheit der richtigen Lebensmittelauswahl, wie es BLW-Verfechter propagieren, sollte man sich nicht verlassen.
Allein der Erwachsene trägt die Verantwortung des ausgewogenen Angebots für den Ess-Neuling. Idealerweise gibt er dem Kind die geeignete Lebensmittelauswahl vor, die überwiegend aus natürlichen Grundnahrungsmitteln besteht und in ihrer Zusammenstellung alle nötigen Nährstoffe enthält. Einseitigen Ernährungsweisen ist von Erwachsenenseite durch entsprechende Angebotsänderungen entgegen zu steuern.

Abgesehen von ernährungsphysiologischen Aspekten gibt es aber weitere kritische Gesichtspunkte: So werden Säuglinge besonders bei der frühen Anwendung der BLW-Methode einer erhöhten Gefahr des Verschluckens ausgesetzt, die bei stückigen Zutaten weit größer ist als bei Lebensmitteln mit weicher, breiiger Konsistenz.

Es leuchtet ein, dass Konsistenz, Beschaffenheit und Geschmack vom Baby bei der BLW-Methode sehr viel intensiver erforscht werden, als bei einer rasch geschluckten Breikost. Doch das spielerische Lernen kann zum Geduldspiel werden und die Lebensmittel werden dabei oft sehr verschwenderisch eingesetzt und am Ende überwiegend weggeworfen.

Im Internet kann man in zahlreiche Filmen der Einführung von BLW zuschauen, in denen Babys auf ihrem Hochstuhl-Tablett, Bananen, Avocados oder gedünstete Karotten hin und her flutschen lassen, zermatschen, in den Mund stecken und größtenteils wieder aus dem Mund heraus befördern. In den ersten BLW-Tagen eines sechs Monate alten Babys gleicht die Mahlzeit erst einmal einem nicht zielgerichteten Experimentieren, bei dem Lebensmittel eher zufällig im Mund als vielmehr auf dem Latz oder unterm Tisch landen. Griffsicherer und gezielter verpflegen sich die Säuglinge erst im Alter etwa ab zehn Monaten. Sinnvollerweise werden erst dann die Lebensmittel auf Tellern oder Schälchen angeboten, da sie dann nicht mehr gleich vom Tisch gewischt werden. Zwischen den ersten BLW-Versuchen und dem gezielten Griff nach Essbarem liegt eine Strecke, die große Gelassenheit und Geduld erfordert, bei der aber viele Mütter sicherheitshalber noch das Stillen zu allen Mahlzeiten beibehalten. Dies birgt eventuell auch die Gefahr, dass ein Kind mit zehn oder zwölf Monaten immer noch nicht viel weitergekommen ist und die Lebensmittel noch nicht als Mittel zur ausschließlichen Selbstverpflegung entdeckt hat. Eine verlängerte Stillzeit, wie sie zuweilen beschrieben wird, widerspricht der Argumentation der frühen Selbständigkeit.

So „unkompliziert“ wie angekündigt ist das Essen dann doch nicht immer: Lebensmittel werden zwar nicht püriert, aber immerhin anfänglich auch weichgegart. Es wird auch viel gekleckert, so dass der Reinigungsaufwand von Essumfeld, Bekleidung und Haaren gegebenenfalls beträchtlich sein kann. Für ein Auswärts-Essen muss man gute Vorkehrungen treffen.

Nebenbei bemerkt: BLW- bzw. „breifrei“- Kochbücher bilden gerade auf dem Büchermarkt eine große Konkurrenz zu den Babybrei-Kochbüchern. Heißt es nicht ausdrücklich, man brauche nicht extra für das Baby zu kochen, sondern gewöhnt es von Anfang an an die Nahrungsmittel auf dem Familientisch? Bedarf es nun eigenen Kochanleitungen für Familienrezepte?
Sicher nicht. Sollte das Baby tatsächlich die Gerichte direkt vom Familientisch oder vom Teller der Bezugsperson mitessen, so können mit etwas Überlegung die meisten gewohnten Zutaten und Familiengerichte ausgewählt werden. Lediglich rohe tierische oder blähende Lebensmittel sind zu meiden. Es muss ferner darauf geachtet werden, dass die Zutaten überwiegend gedünstet oder nur leicht angebraten sind. Man sollte ferner auf mildes Würzen sowie wenig Salz, wenig Süße und den sparsamen Umgang mit Bratfetten achten.


Fazit

Dogmatische Regelwerke über Zeitpläne und Phasen der Mahlzeitenübergänge sowie über Portionsgrößen sind beim Abstillen nicht nötig. So liest sich die Argumentation der Baby-led Weaning-Fans.
Die Abkehr von Dogmen sollte aber auch für die BLW-Befürworter selbst gelten. Warum sollte die Löffelfütterung von mit Bedacht ausgewählten Breizutaten verwerflich sein, wenn das Baby die Bereitschaft dazu anzeigt und auf Sättigungssignale geachtet wird? Es spricht nichts dagegen, die Lebensmittel sowohl mit dem Löffel eines Erwachsenen zuzuführen und parallel dazu einen von Babyhand geführten Löffel oder Fingerfood zuzulassen.
Nötigungsversuche, die vorgegebene Menge auf dem Teller fertig aufzuessen sind - unabhängig von der Frage Breifütterung oder BLW - ohnehin tabu, um das eigene Körperbewusstsein des Kindes für Hunger und Sättigung nicht nachteilig zu beeinflussen. Nicht das BLW an sich, sondern das sichere Gefühl für die Sättigung kann Schutz vor Übergewicht bieten.


Quellen und weiterführende Informationen


Annette.Conrad@dlr.rlp.de     www.fze.rlp.de/ernaehrungsberatung